Früher war alles besser? Naja, früher war zumindest vieles anders. Es war zum Beispiel kälter: Ich war etwa 6 Jahre alt, als wir noch „richtige“ Winter hatten. Meine Mutter packte mich wie ein Michelinmännchen ein, dann ging es raus in den 15 Zentimeter hohen Schnee, wo mich meine Spielkameraden mit fettem Grinsen erwarteten. Entfernen wir uns gedanklich aus dem Schnee, und gehen an den Vereinsteich: Früher war auch die Wertigkeit von Fischgewichten eine andere. Das wissen viele von euch bestimmt noch! Karpfen hätten ein geringes Wachstum, nahm man an.
Ich war etwa 10 Jahre alt, als ein Jugendbetreuer während des gemeinsamen Nachtangelns einen Karpfen von 26 Pfund drillte. Für mich damals ein absolutes Monster! Und ein einschneidendes Erlebnis für mich. Unterm Strich waren das Durchschnittsgewicht und die Größe der Karpfen früher deutlich geringer. Man hörte immer wieder, dass wirklich große Karpfen um die 30 bis 40 Pfund sehr selten sind, da sie Jahrzehnte brauchen, um wirklich so groß zu werden. Mittlerweile wissen wir: Karpfen haben ein deutlich schnelleres Wachstum, als damals angenommen. Und im Laufe der Jahre ist das Durchschnittsgewicht in Höhen geschossen, mit denen damals niemand gerechnet hätte.
Karpfen und ihr Wachstum: Klimawandel ist kein Hirngespinst!
Drehen wir die Uhr 25 Jahre weiter und werfen einen Blick auf das Geschehen: 50 Kilo-Fische, überfüllte Gewässer, High End Tackle und eine extrem neidische Szene zeichnen heute das Bild des Karpfenangelns. Außerdem hat sich das Klima gewandelt, es ist durchschnittlich deutlich wärmer. Die Kinder heutzutage kommen nur selten in den Genuss, Schneemänner zu bauen, wie ich und meine Freunde früher. Aber auch in meinen ganz jungen Jahren berichteten Wissenschaftler vom Klimawandel. Doch die Menschheit, so jedenfalls mein Eindruck, tat das als Hirngespinst ab.
Mittlerweile ist der Klimawandel greifbar: Überschwemmungen, abschmelzende Polkappen, steigender Meeresspiegel und Artensterben sind omnipräsent. Im Laufe meines Lebens erlebte ich immer wieder heftige Hochwasser entlang des Rheins meiner Heimatstadt Köln. Der Klimawandel lässt auch die Schneemassen in Österreich wachsen. Die natürlichen Rheinauen sind größtenteils begradigt, sodass es kaum noch natürliche Überschwemmungsgebiete gibt. Dann kommt es natürlich zum Super-GAU, wenn in den Bergen der Schnee schmilzt und gleichzeitig bei uns der Regen einsetzt.
Wir können mittlerweile den Winter durchangeln!
Nicht nur viele Hochwasser bestätigen den Klimawandel, sondern auch die heißen Sommer. Seit 2016 jagt ein Rekordsommer den nächsten, 2018 waren wir über Monate einer extremen Hitze ausgesetzt. Die Flüsse führen kein Hochwasser mehr, sie trocknen aus! Auch der Rhein hat seitdem dauerhaftes Niedrigwasser. Erschwerend hinzu kommt noch, dass ein großer Energielieferant das ohnehin dadurch knappe Grundwasser abpumpt, um es als Kühlung zu verwenden. Durch all diese Dinge sinkt der Wasserspiegel in den Gewässern meiner Region bis teilweise 1,5 Meter. Die Gewässer leiden sehr. Aber für die Fische ist es nicht so dramatisch.
Wieso? Die Gewässer kühlen im Winter nicht mehr so stark aus. Außerdem erwärmen sie sich im Frühjahr schneller. Das hat zur Folge, dass die Fische früher im Jahr zu fressen beginnen. In den letzten Jahren froren die Gewässer, wenn überhaupt, nur im Februar oder März zu. Bis dahin konnte man noch gute Erfolge verbuchen. Durch diese Entwicklung können die Angler auch den Winter durchangeln und füttern. Die Fischgewichte explodieren, das Durchschnittsgewicht steigt immer weiter an und das Karpfenwachstum steigt. Gewichtszunahmen von teilweise 2-5 Kilo im Jahr sind möglich und nicht unüblich! Die Fangmeldungen von Dezember bis März sprechen für sich.
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So beeinflusst die Nahrung das Karpfen-Wachstum
Doch ist das warme Klima der alleinige Grund solcher Explosionen im Karpfen-Wachstum? Nein, auch das Futter ist ein klarer Faktor. In Kombination mit der Wärme – denn sie können jetzt länger fressen als früher noch. Das natürliche Nahrungsspektrum der Karpfen gibt schon viel her, variiert aber von Gewässer zu Gewässer. Ein Beispiel: Ein überbesetzter, fast krautfreier Vereinstümpel, der wenig Nahrung produziert, wird auf natürlichem Weg keine großen Karpfen hervorbringen. Das ist einfach nicht möglich! Der See daneben beherbergt nur halb so viele Fische, hat aber Kraut, Steinpackungen und Totholz.
Die Konkurrenz der Fische ist kleiner und das Nahrungsspektrum deutlich größer, hier können auf natürlichem Wege große Fische abwachsen. Des Weiteren muss man im Auge behalten, welche Mitesser es gibt – Brassen und Waller zum Beispiel. Stell Dir vor: Im Vereinstümpel schwimmen 50 Brassen. Jeder frisst 300 Gramm am Tag, das sind 15 Kilo Futter, welches durch die Brassenmägen läuft. Natürliche Nahrung wächst aber nur begrenzt und wird unter dem gesamten Fischbestand eines Gewässers aufgeteilt.
100 Kilo Futter pro Jahr? Kein Wunder, dass Karpfen so ein Wachstum haben …
Also: Je weniger Karpfen, je weniger Mitesser, je mehr Struktur und dadurch natürliche Nahrung, desto größer das Schnittgewicht des einzelnen Karpfens. Da die Angelindustrie mit den Anforderungen wächst, wächst auch das Futterangebot. Die Futterindustrie boomt, weil es immer mehr Angler gibt. Mittlerweile schießen die Boiliebuden wie Pilze aus dem Boden. Man bekommt Futter in 20 bis 50 Kilo-Einheiten als Gewinnspiel angeboten.
Außerdem ist das Futter günstiger geworden. Ich habe eine Facebook-Umfrage gestartet, gemeinsam mit meinem Freund Klaudio Kolacovic. Daraus ergab sich, dass ein Großteil der Angler über 100 Kilo Futter im Jahr verbraucht. Dieses (mal mehr, mal weniger) hochwertige Futter kommt „on top“ zur natürlichen Nahrung. Ein großer Faktor, warum die Fische im Schnitt größer sind als früher!
„Anti-Frost-Fische“: So manipuliert die Genetik das Karpfen-Wachstum
Rainbow Lake, Sumbar, Euro Aqua, Zapresic und etliche andere: Mittlerweile gibt es viele Seen im Süden, in denen Fische mit unvorstellbaren Maßen schwimmen. Hier spielt natürlich die warme Region (Kroatien, Frankreich) eine große Rolle. Viele Fische fressen das ganze Jahr über. Außerdem werden die Fische gemästet, am Euro Aqua gibt man ihnen zum Beispiel ungekochten Hartmais. Wie in der Fleischindustrie, wo Schweine gemästet werden. Ekelhaft, finde ich!
Aber nicht nur Futter und Wärme spielen eine Rolle. Kommen wir zu Faktor Nummer 3: den Genen. Die entscheiden, wie groß, schlank, dick, dünn oder lang ein Lebewesen ist. Der Mensch hat irgendwann herausgefunden, dass sich diese Gene manipulieren lassen. Und der Mensch neigt dazu, ans Limit zu gehen.
Zierfische werden zu unschönen Lebewesen geformt, es gibt fluoreszierende Fische, oder welche, die ihre Farbe (wie ein Tintenfisch!) ändern können. Schon vom „Anti-Frost-Lachs“ gehört? Ebenfalls ein tolles Beispiel für Manipulation: Zuchtlachsen wurde ein Gen implantiert, dass sie weniger kälteempfindlich sind und über den Winter durch fressen. Sie wachsen fünfmal so schnell wie ein normaler Lachs!
Das sagt Fischzüchter Steinbuch: Nur 20 Prozent macht die Genetik!„Laut Fachbüchern und schulischem Lernstoff hat die Genetik eines Karpfens nur bis zu 20 Prozent Einfluss auf seine Größe und Abwachsraten; die anderen 80 Prozent sind Umweltfaktoren. Zu diesen Faktoren zählen: Futter, Höhenlage, Sauerstoff, Futterdruck, durchschnittliche Wassertemperatur pro Jahr, Naturnahrung. Beispiel: Ein Großkarpfen aus Rumänien mit Wahnsinnsgenen wird in einen Gebirgssee umgesetzt. Dort würden seine Nachkommen nicht ansatzweise auf Gewichte jenseits der 20 Kilo kommen.“ Christian Steinbuch ist übrigens Fischwirtschaftsmeister in Illmenau/ Thüringen, er bewirtschaftet über 80 Hektar Wasserfläche zur Karpfenzucht. Seine Zucht „BeautyCarps“ ist über Deutschlands Grenzen hin aus bekannt. Außerdem hat er mittlerweile eigenen Wathosen und eine Boilierange. Mehr Infos: www.beauty-carps.de |
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Karpfen wachsen 7 Kilo pro Jahr!
Wenn Du jetzt denkst, dass Genmanipulation ein Phänomen der Neuzeit ist, dann irrst Du. Schon die alten Mönche haben Karpfen „optimiert“! Aus dem alten Wildkarpfen wurden dickbäuchige runde Spiegelkarpfen, wie jeder sie kennt. Warum Spiegel? Man muss sie nicht entschuppen, und sie liefern mehr Fleisch.
Heute legt der Züchter mehr Wert auf die Optik: Zeiler, Halbzeiler, Fully Scales und Two Tones werden gezielt gezüchtet und besetzt. Der Markt verlangt es – wie damals bei den Mönchen. Ihr ahnt es: Natürlich legen nicht alle Züchter ausschließlich Wert aufs Aussehen. Manche auch auf möglichst schnelles Wachstum, und diese „Riesenbabys“ werden bereits in unseren Gewässern besetzt. Unter Top-Bedigungen (wenig Fraßdruck, viel natürliche Nahrung) hat diese Form einen Zuwachs von 5 bis 7 Kilo pro Jahr (anstelle 2 bis 4 Kilo).
Ein K1- Karpfen wiegt bereits 500 Gramm, normalerweise schafft ein K3 erst ein solches Gewicht. Der K1 ist nach einem Jahr 7 Kilo schwer, kurz darauf 12 Kilo – und im 5. Lebensjahr wiegt er schon 20 Kilo! Dann ist der magische Fuffi keine Frage der Zeit mehr. Ich finde, diese „Riesenbabys“ sind für alle von Vorteil – sofern sich die schnell wachsenden Fische auf viele Gewässer Deutschlands verteilen. Leider ist das noch nicht so, deshalb entstehen überrannte Szenepools.
Großfisch schafft Frieden
Die Welt verändert sich. Früher, zu den Pionierzeiten der Karpfenangelei, war viel Unwissenheit vorhanden. Mittlerweile dominieren High End-Tackle, -Köder und -Fische unsere Anglerschaft. Die Gewässer sind gläsern geworden, die Fische wissen um die Jagd nach ihnen. Das setzt aber auf der anderen Seite immer neue Maßstäbe und hält das Angeln facettenreich. Deshalb finde ich es gut!
Grundsätzlich ist es ein Ineinandergreifen von warmem Klima, ein Überangebot von Futter und gute Zuchtformen, die die Fischgewichte in die Höhe schießen lassen. Das wird sich so fortsetzen, da bin ich sicher. Ich für meinen Teil würde mich freuen, wenn jeder Verein einen guten Mischbesatz besetzt, damit jeder Karpfenangler – unabhängig von der Region, in der er lebt – auch die Möglichkeit hat, große und schöne Fische zu fangen. So würde mit Sicherheit auch das ein oder andere Szenegewässer entlastet werden. Und, das wünsche ich mir besonders: Möglicherweise kehrt dadurch etwas mehr Frieden in unserer Szene ein.
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