Lachs and the City

Toronto (Kanada): Die Szenen, die sich im späten Herbst am Humber River abspielen, kennt man aus zahlreichen Reportagen über
Alaska und Kanada: Königslachse ziehen zu Tausenden in den Fluss, überspringen
Wehre, quälen sich durch Stromschnellen und über Sandbänke, um mit allerletzter
Kraft den Ort ihrer Geburt zu erreichen. Dort laichen sie das eine Mal in ihrem
Leben ab und verenden kurze Zeit später.

Eigentlich fehlen nur die in der Strömung fischenden Grizzlys, um die Tierfilmromantik komplett zu machen. Doch die gibt es hier zum Glück nicht, denn der Humber River fließt mitten durch Kanadas Millionenmetropole Toronto. Damit dürfte der Humber einer der wenigen Lachsflüsse auf der Welt sein, der mit der S-Bahn zu erreichen ist. Für die in der Stadt lebenden Angler ist das ein absoluter Glücksfall. Deshalb sind im Oktober und November während des Hauptaufstiegs der Königslachse auch die besten Angelstellen, die direkt bei der Old Mill Subway Station liegen, schon vor Sonnenaufgang belegt. Keine Frage: Wer einen erfolgsversprechenden Platz ergattern will, muss früh raus. Am Wochenende sollte es der ambitionierte Petrijünger gar nicht erst versuchen, rät Dave, der den Fluss schon seit Jahren befischt: Dann gehts hier zu wie im Zoo. Neben den Sonntagsanglern sowie spazierenden, joggenden und skatenden Großstädtern bevölkern an schönen Herbsttagen auch unzählige Touristen die Ufer des Humber und halten nach springenden Lachsen Ausschau. Kopfschüttelnd sinniert Dave über die Folgen dieses Ansturms: Für die Fische ist es an manchen Tagen kaum mehr möglich, in den Fluss aufzusteigen und nicht gefangen zu werden. Outdoorbegeisterte Kanadier lassen sich von dem Rummel nicht abschrecken, dafür sind die Königslachse, die aus dem Ontariosee in den Fluss aufsteigen, eine zu verlockende Beute: Die gefangenen Fische sind im Schnitt um die zehn Pfund schwer und über 60 Zentimeter lang, vereinzelt kommen Exemplare von bis zu 30 Pfund vor. Mit diesen großen Fischen lockt der Humber die verschiedensten Sportangler an. Der moderne Fliegenfischer, voll ausgerüstet mit Wathose, Polarisationsbrille, Weste und 1.000-Dollar-Angelrute, fischt neben dem Rentner aus dem benachbarten Altenwohnheim, der tagtäglich in Gummistiefeln und mit Wal-Mart-Angelset für 39,90 aufkreuzt. Das Lachsfischen kann sich in Ontario fast jeder leisten. Eine Angelkarte ist für 20 Dollar im Jahr zu haben. Auch in Sachen Fangerfolg gehts am Humber demokratisch zu. Die beste Ausrüstung bringt nicht zwangsläufig auch die meisten Fische. Vielmehr kommt es auf das Auge und die Geschicklichkeit des Anglers an. Erfolgreiche Lachsfischer müssen in der Lage sein, den Fluss zu lesen, erklärt Dave. Sie müssen potenzielle Standorte von Fischen ausmachen und Lachse im Wasser orten können, was in Stromschnellen und bei Dämmerlicht eine Menge Erfahrung voraussetzt. Allerdings verlässt sich nicht jeder Fischer auf sein Können. So gibt es einige Sportsfreunde, die versuchen, Lachse von außen in den Rücken zu haken; eine Praxis, die unter Anglern absolut verpönt ist. Legendär ist zudem ein älterer Herr, der angeblich alle paar Tage während der Dämmerung am Humber auftaucht und den Fischen mit einem dreizackigen Speer zu Leibe rückt, was nicht nur verpönt, sondern auch illegal ist. Dieses bizarre Verhalten einiger Humber-Besucher passt allerdings gut zum Ontariosee, den der Zoologe Professor Mart Gross von der Universität Toronto schon vor Jahren als bizarres Aquarium bezeichnete. Gross spielte darauf an, dass die Fauna des Sees eher einem von Menschen kreierten Fischteich als dem natürlichen Zustand des kleinsten der fünf Großen Seen entspricht. Gerade die Königslachse stehen symbolisch für den Wandel des Ontariosees. Die majestätischen Fische gehören zu den pazifischen Lachsen, die an der Tausende von Kilometern entfernten Westküste beheimatet sind. Dass sie heute in Ontario leben, ist nichts weiter als ein Zufallsprodukt, die Folge von fast 200 Jahren Überfischung, Umweltverschmutzung und unkontrolliertem Fischbesatz. Erst nachdem nahezu alle natürlicherweise im See vorkommenden Raubfische Atlantische Lachse, Störe, große Saiblinge – ausgerottet worden waren, sind Königslachse in den 1960ern Jahre ausgesetzt worden. Sie sollten die Ausbreitung von kleinen Futterfischen eindämmen. Niemand erwartete, dass der normalerweise im Salzwasser lebende Fisch sich in seinem neuen Lebensraum vermehren könnte. Doch seit den 1980ern tauchten die Fische in immer größerer Anzahl zum Laichen im Humber auf, was Torontos Angler jubeln ließ: Vor ihrer Haustür war ganz unversehens ein Lachsfluss entstanden! Nimmt man Professor Gross Metapher auf, könnte man allerdings auch sagen: Neben dem bizarren Aquarium war ein bizarrer Zufluss entstanden. Mittlerweile hat sich die Lachsfischerei im Ontariosee zu einem äußerst lukrativen Geschäft entwickelt. Geschätzte $140 Millionen werden jährlich von Sportfischern umgesetzt. Bei dieser wirtschaftlichen Bedeutung des Lachsangelns stören sich nur sehr wenige Einheimische daran, dass die Königslachse eine eingeschleppte Art sind. Und für die meisten Humber-Fischer gilt sowieso, was ein Angler dem staunenden Publikum nach jedem gefangenen Lachs zurief: I love it! Große Fische zu fangen, ist ein Riesenspaß!

Hendrik Breuer

 

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