Grob vereinfacht gibt es unter Karpfenanglern zwei Typen: „Potties“ und „Boilies“. Für die Bezeichnung der Potties habe ich mich vom englischen Wort „pot“ inspirieren lassen, welches für „Topf“ steht. Ihr ahnt es – Potties fangen ihre Karpfen für den Kochtopf oder die Räuchertonne. Was Boilies sind, muss ich hier keinem erklären. Ich nutze den Begriff für die Bezeichnung aller spezialisierten Karpfenangler, also die, die überwiegend mit hart gekochten Teigkugeln angeln und ihren Fang ganz überwiegend oder sogar zu 100 Prozent zurücksetzen. Viele spezialisierte Karpfenangler werden sich hier einsortieren.
Wie so viele, habe ich meine anglerische Karriere als Pottie begonnen. Als kleiner Steppke beim Schwarzangeln in Lohne bei Vechta in Südoldenburg kam mir jedenfalls ein Zurücksetzen nicht in den Sinn. Ich erinnere mich noch, wie ich insgesamt sicher einen Eimer voll 30 Zentimeter langer Kärpflein mit nach Hause brachte. Sie starben ihren Tod in der Waschküche, weil ich keine Ahnung hatte, wie man mit ihnen umgeht. Dann wurden sie zu Hause zubereitet – ich erinnere mich noch an viele Gräten und Vattern, der irgendwas von „nächstes Mal lieber Hecht“ faselte und dabei eine Gräte aus dem Rachen pulte. Nichtsdestotrotz war ich der stolze Ernährer der Familie! Irgendwann wurde ich beim illegalen Räubern erwischt, ab dann ging es in den Angelverein. Zuvor musste ich meinen Jungenfischereischein unter der Aufsicht von dauerrauchenden, weißen, alten Männern im Landgasthaus machen, da war ich 14, glaube ich.
„Bis heute kriege ich kein Messer in den Großkarpfen“
An den Vereinsgewässern lernte ich Angler kennen, die in Flecktarn und mit elektronischen Bissanzeigern ausgestattet ganz gezielt auf Karpfen angelten. An die Mitnahme der Fische war bei diesen Boilies-Typen nicht zu denken: „Catch & Release, natürlich! Wo denkst Du hin? Das wäre doch viel zu schade, diese seltenen Brocken auch noch aufzuessen.“ So langsam dämmerte es auch bei mir. Mit der Zeit rutschte ich immer weiter in die Szene hinein.
Als pubertierender Jugendlicher entdeckte ich Anfang der 1990er Jahre erste Artikel zum Boilieangeln in Angelzeitungen: „Karpfen auf die harte Tour“, titelte der BLINKER. Es sprossen hochspezialisierte Anglergruppen, die sich „Specimen Hunting Groups“ nannten und mit englischen Methoden Karpfen angeln, aus dem Boden. Das Ganze sog mich auf und so wurde ich zuerst vom Pottie zum Boilie. Heute – viele Jahre später – habe ich meine Passion zum Beruf gemacht. Ich bin Fischereiprofessor und untersuche Karpfen, aber auch Hechte und viele andere Arten.
Anglerisch bin ich heute definitiv eine Zwischenform, die sehr gerne und selektiv Fische fängt und isst. Nur beim Großkarpfen kriege ich bis heute das Messer nicht in den Fisch (die kleineren landen auch bei mir gerne mal im Räucherofen). Was ich sagen will: Ich glaube, ich weiß, wovon ich rede, da ich die ganze Geschichte um das Catch-and-Release (und darum soll es nun gehen) sowohl aus praktischer wie auch theoretisch-wissenschaftlicher Sicht bewerten kann.
Catch and Release: ein Krimi, ein Krieg
Den Wandel vom Pottie zum Boilie unterstellt der amerikanische Soziologe Hobsen Bryan übrigens allen spezialisierten Anglern, die viel Zeit am Wasser verbringen. Man fängt als hungriger Kochtopf-Angler an und wird irgendwann zum „edlen“ Fisch-Releaser bzw. Specimen Hunter, der die Widerhaken abknipst, um seinen Fang (der selbstverständlich nicht mehr verspeist wird) ohne Schäden für einen späteren Wiederfang zurückzusetzen. Oder zur Bestandsschonung, die Motive sind unterschiedlich. Was die Spezialisten – oder wie der Soziologe sagt: „hochinvolvierten Angler“ – eint, ist ihre Tendenz, eher weniger Fisch mitzunehmen und mehr vom Fang zurückzusetzen.
In Deutschland ist ein Krieg zwischen den Boilies und Potties ausgebrochen, und je mehr Angler sich in zurücksetzende Karpfenfreaks verwandeln, desto schlimmer wird es. Die Potties bedienten sich in ihrem Kampf gegen die unliebsamen Boilies aktueller Interpretationen des Tierschutzgesetztes. „Angeln ohne Motivation, sich selbst mit Fisch zu versorgen, ist verboten!“, hört man immer wieder. Bis heute halten sich diese Argumente vehement: Angeln nur zum Spaß sei gemäß des Tierschutzgesetzes kein vernünftiger Grund, „einem Wirbeltier Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen“. Es geht also juristisch um einen fehlenden verünftigen Grund, wenn man Fische fängt und sie zurücksetzt, statt sie zu essen.
Der Argumentation zufolge ist dann Angeln mit Zurücksetzabsicht verboten bzw. genauer gesagt Tierquälerei. Oder? Ein bekanntes Gerichtsurteil aus dem Jahr 2002 urteilte zumindest entsprechend. Seitdem sind nicht nur die Potties hinter den Boilies hinterher, sondern auch Staatsanwälte, Juristen und Tierrechtler. Ein Krimi epischen Ausmaßes – und das ganze Theater wegen geangelter und zurückgesetzter Karpfen, die die Situation eher gut verkraften und kurze Zeit später ihre Rüssel wieder in den Schlamm drücken. Dazu später mehr.
Der Karpfenangler fängt zu viel
In der öffentlichen und anglerischen Debatte sind es vor allem die Boilies, die am Pranger stehen. Neuerdings trifft es auch mal einen Raubfischangler, seltener die Fliegenfischer, von denen auch ein stolzer Anteil nahezu jeden Fisch nach dem Fang zurücksetzt. Die Debatte zentriert sich trotzdem hartnäckig um die Karpfen. Warum ist das so? Das Ganze hat wohl mehrere Gründe.
Erstens waren es hierzulande in der Tat vor allem die spezialisierten Boilies, die das Zurücksetzen als einzig wahre Angelpraktik in der Öffentlichkeit praktizieren und zelebrieren. Der zweite Grund ist eher profaner. Meine Doktorarbeit zeigt bereits 2003, dass der durchschnittliche Karpfenangler jung, männlich und ledig ist. Er hat viel Zeit und campiert meist ganze Wochenenden am Wasser. Verbunden mit dem Anfüttern ist er in der Lage, richtig dicke Brocken zu fangen. Das macht andere Angler neidisch, außerdem belegt der Boilie die guten Stellen durch sein Dauercamping ständig. Somit wird für die meisten Potties in Angelvereinen, die in der Regel in der Mehrheit sind, schnell klar: Der Boilie am Ufer muss weg!
Hinzu kommt, dass die extremen Karpfenangler ihre Zurücksetzaffinität auch gerne zur Schau stellen. Mit Aufklebern wie „Catch and Release only“ versuchen sie zu symbolisieren, was das richtige Angelverhalten ist. Und sie versuchen zu missionieren. Wer will schon gerne bekehrt werden? Zweite Frage: Wer lässt sich schon gern von einem furchteinflößenden Kerl in olivgrün bepöbeln, weil man als sorgloser Spinnfischer mit dem Boot in die (quer über den See ausgelegten) Ruten gefahren ist? Viele Karpfenangler sehen militärisch-gefährlich aus.
Ist Catch and Release Tierquälerei? Der Karpfen zuckt mit den Schultern…
Aber natürlich sind Karpfenangler nicht nur die Opfer der Potties. Andersherum verhält es sich genauso. Wehe, ein Pottie wagt es, einen bekannten Fisch im Vereinsgewässer abzuschlagen und diesen toten Karpfen gar auf Social Media zu posten. Shitstorm ist dann noch untertrieben, das ganze kann auch körperlich werden. Denn wer tatsächlich Carola, einen 70-pfündigen Schuppenkarpfen (der in berühmten französischen Gewässern seine Runden dreht und schon etliche Male gefangen, fotografiert und zurückgesetzt wurde) absticht, kann mit ähnlichem Schicksal rechnen. Zumindest mit entsprechender Drohkulisse.
Die Boilies und die Potties beim Karpfenangeln sind nicht allein. Sie stehen symbolisch für das Stehen auf zwei gegenüberliegenden Abbruchkanten eines tiefen Graben. Dieser Graben symbolisiert den Riss, der quer durch die hiesige Anglergemeinde verläuft. Beim Catch & Release-Thema gibt es nur Freund oder Feind. Und die Karpfen? Laut unseren Studien zeigen sie sich recht unbeeindruckt und zucken – menschlich gesprochen – mit den Schultern. Als domestizierte Haustiere sind sie relativ stressresistent, ihre Sterblichkeit nach dem Zurücksetzen ist häufig Null und die Verhaltensanpassungen, die sich nach dem Kampf an der Angel und der Exposition an die Luft in Anstiegen von Milchsäure und Stresshormonen äußern, sind nach spätestens 12 Stunden verschwunden.
Gleichzeit lernen die Fische mit der Zeit, nicht mehr anzubeißen. „Schüchternheitssyndrom“ schwadronieren wir Wissenschaftler gestelzt. Insofern scheint es, dass es dem Karpfen in Deutschland besser geht, als dem spezialisierten Karpfenangler. Denn dieser muss riskieren, bei einem Zurücksetzvorgang wegen Tierquälerei vor dem Kadi zu landen. Auf Anzeige durch den Pottie oder die PETA, während der Karpfen nach dem Landgang weiterfressen darf.
Wir alle stellen uns über den Fisch
Wenn man ganz genau hinschaut und auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschend: Es geht beim Konflikt zwischen „Catch and Release“ vs. „Catch and Kill“ gar nicht im strengen Sinne um das Wohl von Karpfen. Es geht um die ethische Wertung der richtigen Absicht des Anglers. Wieso das? Jeder Angler – auch der, der Fische mitnimmt – stellt seine eigenen Bedürfnisse über die der Lebewesen. Betrachtet man beide Parteien aus der Sicht des Fisches, gibt es keine moralischen Sieger.
Fisch vs. Moral bei der Frage nach Catch and Release
Vielmehr ist es so: Wenn ein Boilie über einen Pottie herzieht (oder andersrum), geht es um die Normen und Werte des Menschen, seine Intentionen, um den vernünftigen Grund beim Angeln. Und nicht im eigentlichen Sinn um Fische und ihre Schmerzen! Denn die Moral, also der „vernünftige Grund“, wie er so gern beschrieben wird, orientiert sich zuallererst an den Absichten der Person, und nicht so sehr am Unwohlsein des Fisches. Der „vernünftige Grund“ wird von unserer Gesellschaft definiert, und nicht vom Fisch.
Oder anders: Jede Schad- und Schmerzzufügung an Fischen wird von der Gesellschaft immer dann gebilligt, wenn das Angeln Motiven folgt, die unsere Gesellschaft (oder ein Staatsanwalt oder Richter als Einzelfallentscheider) als „vernünftig“ bezeichnet. Und der Fisch? Die exakt gleiche Handlung am Fisch kann als vernünftig oder als tierquälerisch bezeichnet werden. Was belegt, dass es beim Krimi um Catch and Release gar nicht primär um Fische und ihr Unwohlsein geht.
Schmerzensfrage: Fisch zurücksetzen oder entnehmen?
Beispiel: Ein Pottie fängt einen Karpfen, drillt ihn 10 Minuten, hebt ihn auf das Ufer, dreht sich um und sucht in der Angelbox nach Knüppel und Messer. Der Vorgang dauert, sagen wir mal, 30 Sekunden zwischen Anlandung und Abstechen. In dieser Zeit und nach dem Drill hat der Fisch enormen Stress, leidet vielleicht. Der Angler hat aber aufgrund der Essensabsicht einen vernünftigen Grund, ihm wird auf die Schulter geklopft, mit Sicherheit keine Tierquälerei gemäß Tierschutzgesetz unterstellt.
Nun drehen wir die Zeit zurück: Genau derselbe Karpfen wird von einem Boilie gefangen, der den Fisch nach 10-minütigem Drill auf eine Abhakmatte legt, im Angelrucksack die Kamera sucht und noch rasch ein Erinnerungsfoto schießt, bevor der Fisch 30 Sekunden später wieder zurückgesetzt wird. Natürlich hatte der Boilie die Absicht, den Fisch zu fangen und zurückzusetzen. Kein vernünftiger Grund. Tierquälerei! Aber die Einflussnahme auf den Karpfen, sein Stress und vielleicht sogar Leid, war in beiden Fällen identisch – was belegt, dass die Frage zur Tierquälerei beim Karpfenangeln, und beim Angeln insgesamt, weniger mit dem Fische und seinem Leid, sondern zuallererst mit dem Angler und seiner Intention zu tun hat.
Würde man einen Karpfen fragen, würde er wohl den Fang von einem Boilie bevorzugen. Denn Weiterleben ist bestimmt angesagter als die Räuchertonne, so aus Fischsicht. Womit geklärt wäre, dass je nach Zeitgeist und Perspektive sowohl der Boilie als auch der Pottie als vernünftig und tugendhaft gelten kann. Und weil es bei der Einschätzung der Tierquälerei offenbar gar nicht primär darum geht, wie es dem Fisch nun geht oder nicht, würde auch eine zweifelsfreie Klärung der Frage, ob Fische Schmerzen empfinden oder nicht, wenig an der emotional geführten Debatte zwischen Töten und Freilassen beim Angeln ändern. Denn mit der Frage, welche ethische Motivation ein Angler hat und welche nicht, hat die Schmerzfrage eher nichts zu tun. Petri Heil!
Auch interessant
- Angeln allgemeinFische zurücksetzen: Wie ist die gesetzliche Lage?
Quellen zum Nachlesen über Catch and Release
- Arlinghaus, R. (2007). Voluntary catch-and-release can generate conflict within the recreational angling community: a qualitative case study of specialised carp, Cyprinus carpio, angling in Germany. Fisheries Management and Ecology, 14, 161–171
- Ferter, K., Cooke, S. J., Humborstad, O.-B., Nilsson, J., Arlinghaus, R. (2020). Fish welfare in recreational fishing. Pages 463-485 In: T. S. Kristiansen et al. (eds.), The Welfare of Fish, Animal Welfare 20, Springer.
- Jendrusch, K., Arlinghaus, R. (2005). Catch & Release – eine juristische Untersuchung. Agrar- und Umweltrecht 35, 48-51
- Rapp, T., Hallermann, J., Cooke, S. J., Hetz, S. K., Wuertz, S., Arlinghaus, R. (2012). Physiological and behavioural consequences of capture and retention in carp sacks on common carp (Cyprinus carpio L.), with implications for catch-and-release recreational fishing. Fisheries Research, 125–126, 57– 68
- Download: ifishman.de