Es sind Szenen, für die man als Naturfilmer stundenlang am Wasser campiert. Am Ufer eines Flusses sitzen einige Tauben, um zu baden und zu trinken. Wie die Badegäste in Spielbergs Klassiker „Der Weiße Hai“ ahnen sie noch nicht, was im Fluss lauert. Dann explodiert die Wasseroberfläche, ein riesiges Maul öffnet sich und verschlingt einen der Vögel. Der Raubfisch verschwindet mit der Beute im tieferen Wasser – und das Ufer ist leer. Kann das sein? Gibt es Welse, die gezielt Tauben auflauern?
Welse im französischen Tarn fressen Tauben
Die Aufnahmen stammen aus dem Sommer vor zehn Jahren. Damals bekam Frédéric Santoul, Forscher an der Universität von Toulouse, einen Anruf aus der Stadt Albi in Südfrankreich. Einer der Angler, mit denen er öfter zusammenarbeitete, berichtete von einem überraschenden Jagdverhalten. „Hier in Albi passiert etwas Seltsames“, soll der Angler damals gesagt haben. „Einige Welse lauern Tauben auf.“
Das Ufer des Tarn, der durch die Stadt verläuft, ist über große Teile sehr flach und erwärmt sich schnell. Zudem gibt es dort einige kleine Inseln, auf denen sich Vögel sammeln. Welse legen sich dort bei Sonnenaufgang auf die Lauer, um Tauben zu erwischen. Zwar hatte Santoul schon länger das Jagdverhalten dieser Fische untersucht, doch dass sie auch Vögel fressen sollten, erstaunte ihn.
Santoul verbrachte den ganzen Sommer damit, die Welse von Albi zu filmen. In den Aufnahmen sind Welse so nah am Ufer zu sehen, dass ihr Rücken aus dem Wasser ragt. Kommen Tauben in ihre Nähe, schlagen sie zu. Dabei werfen sie ihre Körper weit aus dem Wasser, um die Vögel zu erwischen. Das Video ging schon damals durch die Nachrichten und wird auch heute noch häufig geteilt. Doch was steckt hinter diesem Verhalten?
Verhalten erinnert an Orcas auf Beutezug
Der Forscher selbst fühlte sich vor allem an Orcas erinnert. Auch sie werfen sich auf der Jagd an den Strand, um ihre Beute zu erreichen – meist sind das Seehunde. „Es ist unglaublich“, beschrieb Santoul seine Beobachtungen. Für Welse sei dieses Manöver noch deutlich gefährlicher als für Orcas. Denn während die großen Raubtiere Luft atmen, brauchen Welse Wasser, um zu überleben. „Es ist gefährlicher für sie, denn wenn sie zu lange an Land bleiben, kann das für sie tödlich enden.“
2012 erschien eine wissenschaftliche Studie, die sich mit dem Jagdverhalten der Welse beschäftigt, an der Santoul mitwirkte. Sie hat den passenden Namen „Freshwater Killer Whales“, also „Süßwasser-Killerwale“ und trägt die Ergebnisse zusammen. Die Forscher hielten 24 Fälle fest, in denen Welse Jagd auf Tauben machten. Mal ist es nur ein Fisch, mal eine Gruppe von bis zu neun Tieren. Insgesamt kam es im Verlauf der Studie zu 54 Angriffen auf Vögel – von einem seltenen Verhalten kann also nicht die Rede sein.
In 40 Prozent der Fälle warfen sich die Fische mit einer solchen Wucht ans Ufer, dass ihre halbe Körperlänge aus dem Wasser ragte. Einer sprang sogar komplett aus dem Wasser, kehrte aber erfolglos wieder zurück. Insgesamt hatte jeder vierte Angriff Erfolg – eine enorm hohe Quote, die selbst Raubtiere an Land selten erreichen.
Welse nutzen ihre Barteln, um die Tauben aufzuspüren
Die Forscher bemerkten beim Studieren der Aufnahmen, dass die Welse ihre Barteln zu nutzen schienen, um die Bewegungen der Tauben zu erkennen. Vögel, die sich nicht bewegten, hatten wenig von den unterseeischen Angreifern zu befürchten. Doch je größer die Gruppe von „Opfern“ am Ufer wurde, desto höher die Erfolgsquote der Raubfische.
„Wenn es nur ein oder zwei Vögel gibt, ist es für den Wels schwierig“, sagte Santoul. „Doch wenn 20 oder 30 Tauben am Ufer sitzen, kann es für die Vögel gefährlich werden, da sie dann um den Platz am Wasser konkurrieren.“
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Fische lernen gemeinsames Jagdverhalten
Interessant ist in diesem Hinblick auch die Position der Welse, wenn mehrere gemeinsam jagen. „Sie haben eine Art Strategie“, beschrieb Santoul ihr Verhalten. So sei der größte Wels in der Gruppe zuerst an der Reihe. Erbeutet er eine Taube, nimmt ein jüngerer seinen Platz ein. „Es sieht so aus, als würden sie dieses Verhalten Schritt für Schritt lernen.“
Obwohl die Fische viel Energie aufwenden müssen, um ihren Standplatz in der Strömung zu halten, scheint sich die Strategie auszuzahlen. Zwar bleibt der Erfolg an manchen Tagen aus, doch sind Tauben am Ufer, schlagen die Fische gnadenlos zu. „Ich erinnere mich, dass ein- und derselbe Wels an einem Morgen drei Tauben erbeutet hat.“
Auch die Größe der Fische spielt eine Rolle dabei, ob sie an dem „Ansitz“ teilnehmen oder nicht. Die Forscher beobachteten nur Welse, die zwischen 90 und 180 Zentimetern lang waren. Größere Exemplare tauchten nie am Ufer auf. Santoul vermutet, dass sie das Risiko, dass so ein „Landgang“ für sie bedeutet, einschätzen können. Da sie Gefahr laufen, am Ufer liegen zu bleiben, stellen größere Welse den Tauben nicht mehr nach.
Auch in anderen Gewässern Europas beobachtet
Nachdem die französischen Forscher dieses Verhalten das erste Mal beobachteten, gab es auch Sichtungen in anderen Teilen Frankreichs, in Spanien und Italien. In Osteuropa hingegen, woher der Wels ursprünglich stammt, hat man es noch nicht gesehen. Die Forscher vermuten, dass es mit der Beschaffenheit der Gewässer und der Verfügbarkeit von Beute zusammenhängt. Zudem sei es ein klarer Fall von opportunistischem Fressverhalten. Tauben sind für die großen Fische besonders leichte Ziele. Sie haben zwar gelernt, auf Raubvögel zu achten – doch was unter ihnen im Wasser passiert, bemerken sie nicht. „Das macht sie zu einem guten Ziel für Welse“, sagte Santoul. „Im Moment zumindest.“
Quellen: National Geographic, Spiegel, Field & Stream