Als Kinder genossen wir viele Freiheiten. Mama war mit der Versorgung der Großfamilie und der Arbeit auf dem elterlichen Bauernhof gut ausgelastet. Deshalb, und weil wir sehr früh gelernt hatten einen großen Bogen um fahrende Maschinen zu machen, durften wir meist ohne Aufsicht Haus, Hof und Nachbarschaft erkunden.
Zur Zeit in der diese Geschichte spielt war ich schon etwas älter. Mir stand die Welt offen. Solange ich meine Hausaufgaben erledigte und abends irgendwann nach Hause kam durfte ich tun und lassen was ich wollte. Beides war nie ein Problem. Meine Mama erzählt es immer wieder: Irgendwas war bei mir nicht normal. Ich wäre heimgekommen von der Schule, hätte schnell mein Mittagessen hinuntergewürgt, und dann sofort die Hausaufgaben erledigt. Ganz ohne Zureden und Zwang. Jeden Tag. Bei jeder Unterbrechung soll ich den denkwürdigen Satz „Keine Zeit, ich muss der erste am Fluss sein.“ von mir gegeben haben.
Meine Mama fand dieses viel zu brave Kind etwas seltsam, konnte sich aber, auch ob der guten schulischen Leistungen, gut damit abfinden.
Der Fluss hätte den meisten eher als Bach gegolten, 5 bis 10 Meter Solenbreite, schönste Forellenregion, im Stockheimer Becken, jener geologischen Sonderformation zwischen dem Franken- und dem Thüringer Wald.
Für jeden im Dorf hieß er einfach „der Fluss“.
Dort verbrachte ich meine Zeit mit dem Fang von Schmerlen und Mühlkoppen. Später wurden mir auch Döbel und Forellen zur Beute.
Einem Freund von mir gelang der sensationelle Fang zweier Gründlinge. Eine Art, die uns völlig ungekannt war. In Jahren am Bach hatten wir keinen solchen Fisch gefangen.
Einer der größeren Jungs meinte, sie würden sich an den Fingern festsaugen und blutende Wunden beißen. Daraufhin haben wir sie sofort freigelassen. Den großen Stein, unter dem sie gefangen worden waren, mieden wir fortan wie die Pest.
So jagten wir mit Bechern, Gläsern, Eimern und blosen Händen unsere Fische. Wir hälterten sie in kleinen aus Steinen und Sand im Fluss errichteten Teichen und entließen sie am Abend, manchmal auch erst nach 1 oder 2 Tagen, wieder in die Freiheit. So trieben wir jeden Tag unser Unwesen.
Außer am Sonntag.
Am Sonntag war der Fischfang viel zu gefährlich. Am Sonntag kamen die Fliegenfischer.
Wenn die uns erwischt hätten! Schreckliche Maßnahmen von der Prügelstrafe bis zur Abholung durch die Polizei würden uns erwarten. Dachten wir.
Bald hatte ich mich zu einer wahren Blage für diese armen Männer entwickelt. Schon vor 6 Uhr morgens war ich zur Stelle um ihnen aufzulauern. Kilometerweit bin ich ihnen am Ufer gefolgt und habe meine kindlichen Fragen gestellt. Habe ihnen erklärt, um wie viel besser doch eine anständige Heuschreckenimitation meiner Meinung nach fangen würde, als die winzigen Dinger an ihren Vorfächern. Fast jeden Sonntag, bis um 9 Uhr. Dann war es an der Zeit sich zum Kirchgang anzuziehen. Wehe ich wäre nicht rechtzeitig heimgekommen. Den Kirchgang nahmen meine Eltern sehr genau.
Weil große Brüder ihren kleinen Brüdern die wesentlichen Grundkenntnisse zum Überleben beibringen müssen, und weil kleine Brüder immer das gleiche tun wollen was ihre großen Brüder tun, war mein kleiner Bruder natürlich bei jeder Gelegenheit mit von der Partie.
Mit seinen gerade mal 3 Jahren steig er mir durch jeden Brennnesselhaufen hinterher. Die Hochwassermauern rauf und runter musste ich ihm helfen, aber dafür sind große Brüder schließlich da. So waren wir jedem Angler ein Quell steter Freude.
Die Wochen gingen ins Land. Wir verbrachten glückliche Kindertage. Bis eines Sonntages: Großalarm! Mal wieder. Thomas (mein kleiner Bruder) fehlte. Irgendwie schaffte es Mama immer zu wissen, wo ungefähr wir steckten. Auch wenn wir uns nie ab oder anmeldeten. Wenn sie ein Kind (eigentlich nur die kleinen, die großen kamen ja von selber wieder) längere Zeit aus den Augen verlor gab es Großalarm. Wir waren ein eingespieltes Team. Mama suchte Haus und Hof ab, meine 1 Jahr jüngere Schwester düste mit ihrem Kinderfahrrad um die Häuser, und ich war für den Fluss zuständig. Bisher hatten wir noch jedes Geschwisterchen und einige Nachbarskinder wieder gefunden.
Nach etwa einer halben Stunde rief mir meine Schwester vom Steg aus Entwarnung zu. Ein Mann hätte Thomas wieder heimgebracht.
Bei meiner Ankunft war meine Mutter gerade dabei Thomas abzutrocknen und in neue Kleider zu packen.
Sie war dabei gewesen den großen Garten abzusuchen, als der Mann winkend am Tor erschien. Der Fliegenfischer hielt in der Linken die Rute, an der Rechten den kleinen Tropf. Der kleine Tropf wiederum hielt in seiner Rechten eine 2 Meter lange Holzlatte mit einer langen Ballenschnur (ca. 3 mm dicke Schnur mit der Heu und Strohballen verschnürt werden) daran.
Der Angler hatte Thomas bis zum Bauch im Wasser stehend mitten im Fluss gefunden. Tränenüberströmt hätte der kleine seine „Rute“ geschwungen, und dabei immer wieder geschluchzt: „Fischla beißd hald oh! Fischla beißd hald oh! Wieso beißd ä bei miech niä. Fischla beißd hald oh.“
Welches Hobby er später ausüben würde war damit geklärt.