Momentan bin ich im Rahmen meiner Ausbildung für insgesamt 4 Wochen im "Ausseneinsatz". Sprich : in der häuslichen Krankenpflege.
Wir fahren also von Patient zu Patient, die Zuhause leben.
Vor drei Tagen nun ergab sich Folgendes : wir befuhren in einem "sozialen Brennpunkt", wo wir drehen mussten eine Einbahnstrasse. In der Mitte kamen wir nicht mehr wirklich weiter, denn : rechts waren Autos geparkt, und direkt vor uns torkelte ein offensichtlich stark alkoholisierter Mann über die Straße, und es gab keine Möglichkeit, auszuweichen. Der Mann hielt balancierend die Arme weit vom Körper weg (morgens um 11:30 Uhr), überdeutlich gangunsicher, sackte immer mehr mit dem Oberkörper nach vorne; die Füße schliffen immer mehr über den Boden......
Ich sagte zu meiner Kollegin, die sichtlich entnervt war :"Der fällt gleich."
Und so war es dann auch. Erst sackte er auf Knie und Hände, die Arme versagten offensichtlich und er fiel mit dem Gesicht auf den Asphalt. Als er den Kopf hob sah ich eine stark blutende Platzwunde auf der linken Wange auf Höhe des Wangenknochens.
Allerdings sah ich das lediglich im Rückspiegel, denn meine Kollegin - und da beginnt für mich das Unfassbare - nutzte die Kurve, an der wir gerade angelangt war, scherte nach rechts aus und fuhr einfach an dem Mann vorbei.
Die Frau ist gelernte Krankenschwester, und ich war total entsetzt. Sie ist in einem sozialen Beruf tätig und läßt einfach jemanden, der einer Hilfe bedarf mitten auf der Strasse liegen.
Wir haben uns ordentlich in die Wolle gekriegt. Na dann solle ich doch anrufen, wo immer ich wolle.....nettes Angebot, nur war mein Akku leer.
Ich bat also um ihr Handy und sie weigerte sich. Der sei selbst schuld und sie habe damit keinerlei Mitleid. Da nahm mein Entsetzen eigentlich von Minute zu Minute zu.
Nach einer hitzigen Diskussion (ich konnte im Rückspiegel beobachten, dass der Mann stark blutete und nicht in der Lage war, aufzustehen) übergab sie mir ihr Handy und ich rief die Polizei an.
Die widerum bedankte sich für den Hinweis und sagte, sie würden sofort losfahren und nach dem Rechten sehen.
Ich hatte ein total schlechtes Gedwissen, weil ich nicht so lange bei dem Mann geblieben war (bleiben konnte), bis die Polizei kam.
Ich sagte zu meiner Kollegin, dass sie sich gerade wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht hatte, was sie gar nicht nachvollziehen konnte. Und sie blieb bei ihrer Meinung, dass "solche Leute" selbst schuld sind an dem, was ihnen passiert.
Ich habe entgegnet, dass ich nicht der liebe Gott bin und es mir nicht zusteht, über irgendwen ein moralisches Urteil zu fällen; dass für mich lediglich ausschlaggebend sei, ob jemand hilfebedürftig ist - egal aus welchem Grund - und ob ich die Hilfe leisten kann, bzw. dass ich andernfalls jemanden informiere, der die Hilfe leisten kann.
Der Dienst endete zum ersten Mal disharmonisch, und wir konnten uns bis zum Schluss auf keinen gemeinsamen Nenner einigen : die Kollegin denkt nun offensichtlich, dass ich einen Kopfschuss habe und ich denke, dass jemand mit einer solchen Einstellung in keinen sozialen Dienst gehört und ansonsten mal sehr gründlich in sich gehen sollte.
Nun würde ich gerne wissen, wie andere, Aussenstehende (ihr) das sehen, welche Meinung sie haben und wie sie gehandelt hätten.
Habe ich tatsächlich einen Knall, weil ich bei einer Notlage keinen moralischen Maßstab anlege um zu entscheiden, ob ein Mensch es "wert" ist, ihm zu helfen ?
Ich gebe zu, dass ich noch immer sehr betroffen bin und würde gerne wissen, ob ihr das als übertrieben anseht.